Die Genealogie beschäftigt sich mit relativ kleinen und überschaubaren soziologischen Einheiten: Den Familien und ihren verwandtschaftlichen Verflechtungen über die Generationen. Familienforscher/-innen betreiben daher stets „Mikrogeschichte“, indem sie einerseits bestrebt sind, ihren „Stammbaum“ stetig zu erweitern, andererseits aber auch versuchen, die erforschten Ahnen und deren Familien in einen zeitgeschichtlichen Kontext einzubinden. Wie spannend und beeindruckend so etwas zu lesen sein kann, zeigt die britische Wirtschaftshistorikerin Emma Rothschild in ihrem neuen Buch „Eine Hochzeit in der Provinz“, einer Suche nach den Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte. Emma Rothschild (2022). Eine Hochzeit in der Provinz. Die Spuren der Familie Aymard über zwei Jahrhunderte europäischer Geschichte. Darmstadt: wbg Theiss. (Aus dem Englischen von Tobias Gabel und Jörn Pinnow, 496 S. mit 15 s/w-Abb., 14,5 x 21,5 cm, geb. mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8062-4443-4; 32,- €, als Epub oder pdf 25,99 €). (Bild: wbg Theiss) Die großen geschichtlichen Prozesse und Strukturen, Kriege, Schlachten, politische Systeme, Hungersnöte, Migrationsbewegungen usw., prägen zweifellos das Leben des Einzelnen. Umgekehrt lässt jedoch auch eine genaue und detaillierte Analyse der Lebensumstände eines Individuums und seines familiären Umfelds Rückschlüsse auf größere historische Zusammenhänge zu, ja macht sie oft erst konkret greif- und verstehbar. Geschichte wird also aus dieser Perspektive „von unten“ geschrieben, ganz im Sinne Heinrich Heines (1797 - 1856), der in seinen Reisebildern (Kap. 67) schrieb: „Unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“. Als Carlo Ginzburg und Carlo Poni 1979 auf einer Konferenz in Rom das „Programm der Mikrogeschichte“ vorstellten, hatte Ginzburg bereits gezeigt, wie so etwas aussehen kann: 1976 war sein Buch „Der Käse und die Würmer“ (Il formaggio e i vermi) erschienen, die detaillierte Darstellung der Lebensgeschichte und des Weltbildes des italienischen Müllers Domenico Scandello, genannt Menocchio (1532 – 1599). Es war ein Buch, das die Geschichtsschreibung revolutionierte. Das Buch … In dieser Tradition steht auch Emma Rothschilds „Hochzeit in der Provinz“. Ausgangspunkt ist ein Ehevertrag mit 83 Unterschriften vom 9. Dezember 1764, den die Witwe Marie Aymard (1713 – 1790) für ihre Tochter Françoise Ferrand (1740 – 1805) aufsetzen ließ – sie selbst konnte nicht schreiben. Ort des Geschehens ist Angoulême im Südwesten Frankreichs. Erzählt werden nun die Geschichten dieser 83 Personen, die vor über 250 Jahren ihre Unterschriften auf dem Dokument hinterließen – und nahezu alle sind sehr spannend zu lesen. 1. Seite des „Ehevertrags von Etienne Allemand und Françoise Ferrand,“ Archive des Departements Charente, 2E153, vom 9. Dezember 1764. (Bild: An Infinite Story) Ergänzt wird das Buch durch
Nachfahrentafel von Marie Aymard und ihres verstorbenen Ehemanns Louis Ferrand. (Bild: An Infinite Story) Die Homepage … Eine Homepage zu dieser „Unendlichen Geschichte“ („An Infinite History“, so der Titel des Buches im englischsprachigen Original) liefert weiteres Hintergrundmaterial, u. a. eine Karte mit einigen der Orte, an denen Marie Aymard und ihre Nachkommen lebten oder sich aufhielten, sowie eine kleine Galerie von Familienfotos, darunter Bilder der einzigen zwei Ur-Ur-Enkel Marie Aymards, von denen eine bildliche Darstellung erhalten geblieben ist. Homepage zum Buch: "An Infinite Story" (Bild: Screenshot) Genealogisch interessant ist auch die grafische Visualisierung des sozialen Netzwerks der Unterzeichner des Heiratsvertrags sowie der sozialen Netze von Angoulême im Jahr 1764. So werden z. B. in einer Grafik die 505 Geburten, 327 Sterbefälle und 122 Eheschließungen des Jahres 1764 als soziales Netz dargestellt. Ausschnitt aus der Netzwerk-Grafik mit 505 Geburten, 327 Sterbefällen und 122 Eheschließungen des Jahres 1764 in Angoulême. (Bild: "An Infinite Story") Es lohnt sich in jedem Fall, auf dieser Homepage zu stöbern – und evtl. diese Geschichte auch fortzuschreiben. Dementsprechend heißt es auch auf der Homepage:
Die Autorin … Emma Georgina Rothschild-Sen (* 1948) kann selbst auf eine spannende Familiengeschichte zurückblicken: Sie ist eine Tochter des Biologen und Geheimdienstmitarbeiters Baron Victor Rothschild (1910 – 1990) und Enkelin des Bankiers, Entomologen und Naturschützers Charles Rothschild (1877 – 1923), stammt also aus der berühmten Rothschild-Dynastie, deren Mitglieder sich in Deutschland ab 1500 urkundlich belegen lassen. 1991 heiratete sie den Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen. Emma Rothschild. (Bild: Wikimedia Commons. Von Fronteiras do Pensamento - Emma Rothschild, historiadora da economia, Professora em Harvard, esposa de Amartya Sen, CC BY-SA 2.0) Sie war Professorin an der University of Cambridge und der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, seit 2008 ist sie Jeremy and Jane Knowles Professor of History an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts. 2022 gewann ihr Buch „Eine Hochzeit in der Provinz“ den PROSE Award für Europäische Geschichte. Damit werden seit 1976 jedes Jahr Autoren/-innen, Herausgeber/-innen und Verleger/-innen geehrt, die mit ihren bahnbrechenden Werken bedeutende Fortschritte in ihren jeweiligen Fachgebieten erzielt haben. Fazit ... Ein großartig recherchiertes Buch, das zudem noch spannend geschrieben ist. Und für Genealogen/-innen ein Beispiel, wie sich vielleicht auch die eigene Familienforschung ansprechend aufbereiten lässt. Klare Leseempfehlung! Literaturtipps zum Weiterlesen
Eine ausführliche Bibliografie von Werken zum Thema „Mikrogeschichte“ ist auf der Homepage „Microhistory Network – History under a microscope“ zu finden. [Hu]
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Roland
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